Gesellschaftsdämmerung | Umbaute Zeit (IV,14)
Die Entdeckung, überflüssig zu sein, treibt Menschen zu extremen Handlungen aller Art. Das kann sogar die ohne Rücksicht auf sich selbst betriebene Pflege eines kranken oder alternden Menschen sein, die gezielte Unachtsamkeit auf das, was im eigenen Leben ansteht, wenn es als ganzes gestaltet werden soll – was bei den ökonomischen Grundlagen anfängt, aber noch lange nicht endet. So beginnt einer, ohne es gleich zu merken, zwei Leben zu leben anstelle des einen – sein ungelebtes und eines, das er gleichsam stellvertretend absolviert, weil sich niemand anbietet, der aber da sein müsste, wenn die unterstellten Bedürfnisse der anderen Seite befriedigt werden sollen. Und befriedigt werden müssen sie, sofern der Sog nur groß genug ist, der von der anderen Person oder auch nur den Umständen ausgeht, in denen sie sich befindet, und die sie immer wieder herzustellen weiß oder nicht zu verlassen klug genug ist. Worin diese Umstände bestehen? Manchen genügt das Sich-Fallenlassen in immer neue kleine und größere Katastrophen des Alltags, eine Unfallneigung, ein kleines Laster, das aber vom anderen gedeckt sein will, wenn die Lichter nicht ausgehen sollen. Bei Bedarf können depressive Zustände nachgeschoben werden, auch darin bekommt die Seele Übung. Am Ende steht – als Vision oder Realität – der ans Bett oder an den Rollstuhl gefesselte, der verbrauchte Mensch, der Mensch, der nicht leben und nicht sterben kann. Einen Partner zur Seite zu haben, der diesen Weg mitgeht, zählt zu den großen Beruhigungen des Lebens. Was liegt also näher, als ihn zu testen? Ihn immer und immer wieder zu testen – was doch nichts anderes heißt, als ihn zu erpressen, ein ums andere Mal, ein ums andere Jahr, ein ums andere Jahrzehnt. Die an die Stelle der ›konventionellen‹ Ehe gesetzte Partnerschaft – ein Zweckbündnis – lockt zu solchen Tests, es ist der übliche Weg, auf dem sie entgleist. Aber wer sagt denn, dass sie entgleist? Dass sie nicht auf diesem Weg ins Gleis kommt?
© Acta litterarum 2009