Gesellschaftsdämmerung | Umbaute Zeit (IV,1)
Umbaute Zeit
Emblem der Baukunst: der beflügelte Mensch. Aber, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, nur Engeln wachsen die Flügel am Rücken. Menschen tragen ihre, wie jedermann weiß, an den Füßen. Ob und wann sie sie an- oder ablegen, das steht (fast) in ihrem Belieben. Hin und wieder sieht man die Flügelchen auf barocken Bildern, darunter den Schriftzug ›fastina lente‹ – Eile mit Weile. Unter Taubenzüchtern bedarf das keiner Erläuterung. Wer rennt, fällt aus der beflügelten Eile heraus, er macht sich zum Automaten, auch wenn er ein Quentchen Lust damit aus sich herausquetscht. Es gibt eine beflügelte Ruhe, die sich im Schreiten dokumentiert – seltsames, dem Hohn überantwortetes Wort von archaischer Anmutung wie ›Gewand‹, ›Gebärde‹ oder ›Haupt‹. Anders als das hieratische Schreiten der Würdenträger, das gelernt sein will, aber in der Regel von Langeweile und einem unnötigen Gefühl der eigenen Wichtigkeit getragen wird, ergibt sich das attributlose Schreiten spontan. Doch es ergibt sich nicht überall. Der schreitende Mensch wird getragen, er weiß sich getragen, seine innere Stärke fügt sich dem Raum, sie weiß sich von ihm erfüllt und füllt ihn aus. Auch das kann man lernen, dann ist man ein Schauspieler und macht die Welt zur Bühne seiner Auftritte. Dieses Bühne-Sein der umgebenden Welt lässt sich nicht erzwingen, es muss gegeben sein oder sich ergeben. Die Welt spielt mit. Schreiten ist Bewegung in gut dimensionierten, gut umbauten und effektvoll beleuchteten Räumen.
© Acta litterarum 2009