Gesellschaftsdämmerung | Moderne zum Abwinken (II,1)
Moderne zum Abwinken
Die moderne Welt ist die schöne – aus keinem anderen Grund wird sie
von ihren ohnmächtigen Verächtern oder ernüchterten Bewohnern als
hässlich geschmäht. Wäre sie doch nur schöner! So wie sie ist, ist sie
ganz die alte, obwohl sich in ihr alles verschoben hat und weiter
verschiebt. Die moderne Welt ist ephemer – das kommt der Sache schon
näher. Man muss den Leuten aufs Maul schauen statt auf die Theorien. Es
ist immer zugleich im Grunde ganz einfach und alles ganz anders.
Darin besteht der so genannte ›Diskurs der Moderne‹, in dem das
Ephemere als Wesen gesetzt und gegen sich zur Geltung gebracht wird.
Seit hundert Jahren erdenkt sich die Philosophie eine Oberfläche ohne
Tiefe, ist kapriziös, funktionalistisch, konsensualistisch,
dekonstruktivistisch und radikal-konstruktivistisch, ohne von der
Stelle zu kommen, soll heißen, aus der Ohnmacht gegenüber der
metaphysischen Tradition heraus zu kommen, die als eine Art
durchgestrichenes Substrat in den Köpfen der Leute spukt. Wie die
moderne Musik die Menschen in die Abgründe der Popularmusik getrieben
hat, so hat das moderne Denken das Ich in einen Gefängniswärter
verwandelt, der seine eingewurzelten Überzeugungen nicht herauslassen
darf, es sei denn, es riskiere seinen Untergang als ›denkendes Wesen‹.
In Wahrheit riskiert es nichts, denn was herauskäme, wäre vor allem
Geschrei. Diese Zensur geht tiefer als alle Lippenbekenntnisse.
© Acta litterarum 2009