Gesellschaftsdämmerung | Moderne zum Abwinken (II,2)
Ist Moderne Zensur oder ihre Abschaffung? Obenhin gesprochen,
könnte man sie als Test verstehen – als Test auf die Abschaffung der
Zensur, die sich nicht abschaffen lässt, sondern, wenn ihre tradierten
Formen zerstört sind, sich (spontan oder nicht) in neuen Formen
herausbildet oder ›erfindet‹, wie die dazu passende Modevokabel lautet.
Diese so erfinderische Zensur bedient sich ältester Verbotsmechanismen,
sie bedient sich der Scham, des Tabus, des Sündenbewusstseins und der
Reue, des Vernunftstolzes und der Treue – sie bedient sich all dieser
ererbten Ansprüche auf das Sozialverhalten und auf die Seele, aber auf
eine neue Weise, gleichsam als lägen sie alle in einer Ebene und
operierten in einem Verbund, der Sprachlosigkeit und Rede so
miteinander verzahnt, dass alles, was gesprochen und nicht gesprochen
wird, wie absichtslos gehorcht. Der gehäutete Menschheitsaffekt und die
entbeinten Formen tradierter Gottes- und Lebensfrömmigkeit laufen dort
zusammen, wo Folgsamkeit wichtig, aber nicht erzwingbar erscheint. Das
mag einmal die Politik, einmal die Mode sein, ein anderes Mal die
Wissenschaft und das Design eines ökonomischen Irrglaubens, der mit der
nächsten ›Blase‹ zergeht. Bis dahin bleibt der soziale Raum bis zum
Bersten mit einer Spannung erfüllt, die jeden Einspruch und jede
anderslautende Rede, wenn sie überhaupt geführt wird, zur
Wirkungslosigkeit verdammt. Und das ist wenig gesagt: ein paar
gekreuzigte Wortführer fallen dabei immer ab und der Rest ist
verständigt.
© Acta litterarum 2009