Gesellschaftsdämmerung | Moderne zum Abwinken (II,3)
Auch unsere Moderne wird, wie jede andere, vergessen. ›Unsere
Moderne‹? Was soll das sein? Das müssten wir wissen, wir wissen es aber
nicht und werden es niemals wissen. Nur wer eine Moderne projektiert,
weiß Bescheid, denn er will etwas durchsetzen. Deshalb ist jede Moderne
ein ›unvollendetes Projekt‹, solange noch eine Hand sich regt und ein
Gehirn sich dafür ›einsetzt‹. Dieser Einsatz für eine bessere Welt, die
heute die ökologische heißt und morgen anders, für eine andere Ordnung
der Dinge und Menschen, setzt voraus, dass einer sich selbst als in
einer anderen – spirituellen oder historischen – Ordnung stehend
begreift. Das gilt als ›selbstverständlich‹, aber was heißt das? Die
Hoffnung auf Erneuerung kann sich mit allem Erdenklichen verbinden, sie
bleibt immer das Tierchen, das trabt. Diese seltsame Allianz aus jungen
Leuten, die ihr Lebensrecht reklamieren, und unfrohen Konvertiten, die
sich als Träger der frohen Botschaft ihr Quentchen öffentlicher
Befriedigung holen, wenn sie nicht nur ihren Etat aufstocken möchten,
beide auf der ewigen Suche nach einem Volk, das gegen die Verhältnisse
aufbegehrt, nach der Mehrheit ›links von‹, trägt ihre Welt mit sich
herum, lebenslang, lebenslänglich. Bei den Erfolgreichen verbindet sie
sich mit dem, was sie anfassen, macht gleichsam selbst Karriere und
verwandelt sich in ein Plakat, das die verteilte Wirklichkeit verdeckt
und ersetzt, bei den Erfolglosen wird sie zum Vorbehalt, zur bitteren
Losung, zum Ressentiment und zum Erinnerungsposten. Wer nicht
vorankommt, darf es sich merken, man merkt es ihm an und man lässt es
ihn merken. Man hält sich auch an ihm schadlos; so endet ein reiches
Gelehrtenleben unter höhnischem Erbarmen und doppelzüngigem Lob. Ein
recht humanes Schicksal, verglichen mit den Erschießungspelotons und
Ausrottungsfeldzügen, mit denen sich seine Vorläufer ins Buch der
Geschichte einschreiben durften und denen sie selbst zum Opfer fielen.
Die Unerträglichkeit des Humanen muss tief empfunden werden, um sie
durch die Unerträglichkeiten der Humanisierung ersetzen zu wollen.
Angesichts solcher Prägungen ist Ratlosigkeit ein hohes Gut, das man
nicht leicht verschleudern sollte. Erklärungen finden sich immer, sie
sind billig und Wasser auf die Mühlen der Erklärten. ›Der Mensch‹ ist
kein unvollendetes Projekt, sondern eine traurige Figur, die gern lacht.
© Acta litterarum 2008