Gesellschaftsdämmerung | Moderne zum Abwinken (II,4)
Die Soziologie ist saturiert.
Das klingt wie: »Der Markt für Seifenartikel ist gesättigt«, und ist
auch ähnlich gemeint. Solche Sätze werden in die Welt hinein
gesprochen, sie besitzen keinen exklusiven Geltungsbereich, sondern
vertrauen auf die Einstimmung von Leuten, denen die eigene Erfahrung
ähnliches sagt. Das macht sie nicht weniger ›anschlussfähig‹, im
Gegenteil – auch wer die Einstimmung verweigert, wird von ihnen
gestreift. Schon manches Spiel wurde vergessen, nachdem es sich
durchgesetzt hatte, oder es musste sich radikale Neuordnungen gefallen
lassen. Also, zum zweiten Mal: Die Soziologie ist saturiert. Ihre
Sprache, ihre Leitvorstellungen haben die Alltagskultur erobert, sie
besitzen Herrschaftsfunktion. Dafür nimmt sie Banalisierungen gern in
Kauf – zu Recht, denn als Wissenschaft ist sie ›kurz‹ geblieben, die
Götter sind fixiert, der Problemdruck ist gering. Sie hofft auf
Einfälle, perspektivische Einstreuungen, die es erlauben, das intime
Mobiliar, von dem Weber einst so verächtlich redete, ein wenig zu
verrücken. Sie ist angekommen, diese Wissenschaft, sie braucht keine
Propheten, ihr genügen die Schultern der Vorgänger, auf denen sie steht
und die Backen bläst. Währenddessen verblasst ihr Gegenstand, die
Gesellschaft. Was Kritiker gelegentlich argwöhnten, aber nur in die
Sprache des Ressentiments kleiden konnten, geschieht mit einer
Nonchalance, die einem den Atem raubt, hat man sich erst einmal zur
Wahrnehmung entschlossen. Der durchgesetzte Funktionalismus erzeugt
sein Gegenteil, was immer es sei. Hass, Unglauben, Versagen: im Namen
dieser ungöttlichen Dreifaltigkeit geschieht viel, das meiste von dem,
worauf sich die Aufmerksamkeit der Menschen fokussiert. Es steht im
Mittelpunkt des Beredens, von dem Wissenschaftler oft leichtfertig
glauben, es gehorche dem Vorurteil. Aber auch das Vorurteil bleibt ein
Konstrukt, dessen man sich ohne Vorurteil annehmen sollte.
© Acta litterarum 2008