Gesellschaftsdämmerung | Umbaute Zeit (IV,15)
Die Idee des Nachtwächterstaates ist nicht falsch, sie reicht nur nicht aus. Wer will, dass alle die Regeln einhalten, muss den Sinn ihres Tuns zerstören, sobald er ›ordnungsrelevant‹ wird. Nicht das Geltenlassen ist also der Sinn der Veranstaltung, sondern der einzurichtende Geltungsraum, in dem sich die Protagonisten des Spiels ungehindert bewegen können. Dieser Raum wird durch seine Ränder bestimmt, durch gewöhnlich halb oder gar nicht sichtbare Marken im Gelände, deren Überschreitung aus dem Gesprächspartner eine befremdliche Person werden lässt, die ›Feind‹ zu nennen ebenfalls bereits ein befremdlicher Vorgang wäre, der besser unterbleibt. Die liberale Gemeinschaft kennt keine Feinde. Die paradoxe Formel deckt einen paradoxen Sachverhalt. ›Weimar‹ bleibt das Synonym für ein über seine Grenzen hinaus beanspruchtes liberales Gemeinwesen, für eine Gesellschaft ohne Gemeinschaft, um den Ausdruck Tönnies’ zu gebrauchen. In der Regel hilft ein starker Glaube, wie ihn Hannah Arendt und andere nach ihrem Zusammenbruch in Amerika vorfanden. Aber er ist nicht übertragbar. Übertragbar sind – in Maßen – Institutionen und Vorschriften, übertragbar sind Redeweisen und Bilder, Erziehungskonzepte und eine gewisse Art, sich permanent unter Strom zu halten, gewissermaßen eine propagandistische Existenz zu führen, in der einzelne Wörter und Sätze einen markigen Klang besitzen und die Art und Weise, in bestimmten Situationen die Augen aufzureißen, keinen gesellschaftlichen Typus verrät, sondern die augenblicklich angesagte Aufgabe. Man sieht das bei Politikern, Moderatoren und Machern, man sieht es auch bei den bedauernswerten Menschen, die für ihren Beruf ›alles‹ geben oder zu geben behaupten, bevor sie die nächste psychische Krise für eine Weile vom Arbeitsplatz entfernt.
© Acta litterarum 2009