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Gesellschaftsdämmerung | Umbaute Zeit (IV,12)
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Das Wort von der ›Biopolitik‹ soll den legitimen Staat zum Verschwinden bringen. Der Gleichung ›legitim = illegitim‹ entspricht die Gleichung ›humanitär = inhuman‹. Für derlei Wortspiele ist der volkshygienisch motivierte Genozid ein gefundenes Fressen und es macht keinen Unterschied, dass die Hygienerede hier selbst bereits bloße Metapher ist, ein Missbrauch der Sprache wie des Vorstellungsvermögens der Leute, ein Instrument der Propaganda und der ideologischen Selbstberieselung ›überzeugter‹ Mörder. »Leben machen und sterben lassen« – ganz so ist es nicht. Die Bereitstellung einer medizinisch-hygienischen Infrastruktur zählt zu den ›Gemeinschaftsaufgaben‹ wie der Eisenbahn- oder Autobahnbau, die Versorgung mit Wasser, Strom und Information, die ganze Vielzahl täglich in Anspruch genommener Dienste, die das Leben in mancherlei Hinsicht angenehm machen und sein Erscheinungsbild – manche meinen: irreversibel – verändern. Sie alle können auch privatisiert werden, sobald private Gesellschaften über genügend logistische und finanzielle Fähigkeiten verfügen. Die Frage, um welcher Ziele oder Werte willen ein solcher Staat seine Bürger in den Tod schickt, bleibt davon völlig unberührt. Das Leben im Komfort hat mit dem Gegensatz Leben – Tod so viel oder so wenig zu tun wie der totalisierende Staat mit dem totalitären. Keine Macht ist ganz legitim und jede Macht beunruhigt, das gehört zu den beunruhigend banalen Tatsachen wie die, dass kein Mensch einfach böse ist und die Rede vom ›Unmenschen‹ zwangsläufig auf den zurückschlägt, der sie im Munde führt. Kein Wunder, dass unter eingefleischten Theoretikern der Gesellschaft der Verzicht auf den menschlichen Faktor in der Regel zu den glücklichen Griffen zählt.
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