Gesellschaftsdämmerung | Umbaute Zeit (IV,11)
Zu den primären und nur wohldosiert zu bewältigenden Exerzitien der legitimen Macht gehört es, die Bürger an der langen Leine laufen zu lassen. Kaum etwas charakterisiert sie besser als der Verzicht auf die Todesstrafe, nichts hebt ihre Bedeutung als Widerlager der Gesellschaft deutlicher ins Bewusstsein als die Zahl der Befürworter. Der von den Bürgern erzwungene Verzicht auf den Verzicht bezeichnet ein europäischen Eliten noch immer unbegreifliches Übergewicht an Demokratie und erinnert daran, dass auch die legitimste Macht ein illegitimes Moment besitzt. Die legitime Macht begegnet dem dadurch, dass sie ihre Hobbessche Funktion als Garant des Lebens auffällig-unauffällig verstärkt. Die übertriebene, ein Stück weit auch gehässige Rede von der Biopolitik als dem Grundzug – vielleicht sogar der Basis – des modernen Staates spießt diese Wechselbeziehung auf. Das geschieht nicht ohne Grund. Der revolutionspathologisch motivierte Krieg gegen das Bestehende, also gegen jede Form von Legitimität, findet in der humanitären Rechtfertigung des Staates seinen schwierigsten Gegner. Diese Rechtfertigung ist einfach nicht aus der Welt zu schaffen, sie erfindet sich in jeder Notsituation, die die Mittel des Einzelnen und der überschaubaren ›Gemeinschaft‹ überschreitet, neu. Also muss man versuchen, sie umzudrehen und konsequent als Perfidie zu lesen: so, als ob der existierende Staat selbst diese Nöte hervorbrächte oder zumindest konditionierte, um sein Einschreiten zu rechtfertigen. Das mag in bestimmten Fällen und unter bestimmten Umständen sogar zutreffen, aber es ist in einem strengen Sinn nicht verallgemeinerbar. Es klebt an der beharrlich fortexistierenden Schimäre des durch jede Art von Allgemeinheit außer der spontanen Assoziation geschwächten und von seinem Lebenssinn ferngehaltenen Individuums, das sich erst im ›Kampf‹ wiederfindet.
© Acta litterarum 2009