Gesellschaftsdämmerung | Umbaute Zeit (IV,10)
Das Übergewicht des Irregulären, das reguläre Züge annimmt, um das Gewicht der Macht bis zur völligen Gefügigkeit der Beherrschten zu steigern, ist ohne den religiösen Begriff des Frevels nicht zu verstehen. Ebenso wenig, ist die maßlose Macht erst einmal gebrochen, die Gegenbewegung der von ihr Entlassenen. Maßlos wie der Frevel ist die Sühne, die selbst den Weg des Frevels geht. Auch die Sühne muss, wie der Frevel, auf den sie folgt, um der Menschlichkeit willen gebrochen werden – am besten abgebrochen von denen, die sich ihr frenetisch verschrieben haben. Wo dies nicht geschieht, wo stattdessen Rituale entstehen und Menschen auf die Knie zwingen, gleichgültig darum, was ihnen in dieser Pose durch den Kopf geht und mit welchen Entschlüssen sie sich aus ihr erheben, wächst eine neue Maßlosigkeit, wächst auch die Bereitschaft, sie gewähren zu lassen. Nennen wir es den zivilreligiösen Zyklus. Wer die Gemüter beherrscht, neigt dazu, vergessen zu machen, ohne vergessen zu können, und lenkt so die Kräfte des Nicht-Vergessen-Könnens auf den Anblick, den er selbst den anderen bietet. So wächst aus den Lehren der Geschichte die Repression – eine alte, immer wieder neue geschriebene Geschichte, mehr mythisch als progressiv, ein Mittel, Depressionen zu steigern, an denen der geschichtsbewusste Mensch ohnehin laboriert.
© Acta litterarum 2009