Gesellschaftsdämmerung | Umbaute Zeit (IV,7)
Absichtsvoll diagnostiziert man die Dekomposition des souveränen Einzelstaates auf den ›relevanten Feldern‹ wie Recht, Wirtschaft, Kultur als Trend zu ›supranationalen staatsähnlichen Zusammenschlüssen‹: Alles andere wäre rechtliche, ökonomische usw. Anarchie mit einem Schuss Tyrannei. Dem muss man steuern. Aber wie jede Bewegung repräsentiert auch diese ebensosehr einen Zustand. Sie ist die Form, in der sich Gegenwart organisiert. Gegenwart meint hier nicht die Momentaufnahme, den synchronen Schnitt durch eine ständig im Fluss befindliche ›Welt‹, sondern den Zeit-Raum, in dem sich reale Menschen in ihren realen Handlungen orientieren. Dieser Zeit-Raum besitzt eine gewisse, durch Jahreszahlen und Eckdaten nicht oder kaum zu erfassende Erstreckung. Ein ausschließlich auf Dynamik und Fluchtpunkte in der Zukunft fixiertes Denken konsumiert diese Erstreckung, es verschluckt sie, als gäbe es sie nicht oder nur als eine Art Zielgerade von Entwicklungen. Der Staat der Planer ist nicht identisch mit dem Staat der Menschen, die ihn bewohnen. Letzterer ist eine Art Behälter, ein ›Format‹, auf das der Einzelne durch die Gesamtheit seines Lebenszuschnitts reagiert, fühlbar am ehesten durch die Restriktionen, die er ihm auferlegt, das heißt durch die notwendigen oder überflüssigen Konstruktionsmängel, die sein Ausgreifen stören. Die Realität des Staates, heißt das, ist weder der Einzelstaat noch das Staatensystem, sondern das systemische, sich in Überschneidungen, Überlagerungen, Rupturen, Frakturen bezeugende Gebilde, das alle staatlichen Funktionen vereint und staatenweise ausspielt.
© Acta litterarum 2009