Gesellschaftsdämmerung | Rede
vom Weltuntergang (III,29)
Wenn die Geschichte nicht zu Ende gegangen ist, dann deshalb, weil keine der alten Geschichten zu einem Abschluss gelangte. Stattdessen bestätigt sich ihre Virulenz von Tag zu Tag. Die ziellos gewordene Geschichte trägt das individuelle Leben wie das Leben der Gruppen-Individuen als Gift in die Zukunft: als frivoles Begehren, die Weltordnung zu stürzen, um welchen Preis auch immer, als ständig erneuertes potentielles ›Verbrechen gegen die Menschheit‹. Der Preis, den die Individuen zu zahlen bereit bereit sind, lässt sie kenntlich (oder unkenntlich) werden. Unkenntlich macht sich der Teenager, der seine Ausbildung durch eine ›ungewollte‹ Schwangerschaft ›kippt‹, weil die Übermacht der Interpretationen in ihn selbst hineinreicht und jeden weitergehenden Ausdruck der Intention erstickt, kenntlich und unkenntlich macht sich der Amokläufer, angesichts dessen jeder weiß, ohne dass die Kette der Interpretationen abreißen würde, kenntlich macht sich der Terror, der die Stufe polizeilicher Maßnahmen überspringt und – endlich – den gierig reklamierten Status des Feindes zugesprochen bekommt. In einem Brief an seinen Lehrer Kojève bezeichnet Bataille das eigene Leben als ›Abort‹, als intentionslose Negation der vollendeten Geschichte. Daran ist, abgesehen von allem Persönlichen, viel Wahres.
© Acta litterarum 2009