Gesellschaftsdämmerung | Rede
vom Weltuntergang (III,28)
Das Vergehen des Menschen, gedacht als Auflösung, Übergang oder Sprung, leitet sich her vom Ziel der Humanität, also etwa dem, was noch Kant, im Gegensatz zum letzten Zweck der Natur, das heißt dem Menschen selbst, als Endzweck der Schöpfung bezeichnet hat. Dieses Ziel wäre das Ziel der Geschichte. Der Gedanke wurde so oft durchdekliniert, dass er sich ohne Scham kaum aufrufen lässt. Woher diese Scham? Die Frage ruft ein Gefühl des Versagens hervor angesichts der Fülle aller stattgehabten Versuche, der Geschichte einen gesicherten Zweck zuzusprechen. Auch die berühmte ›Sinnlosigkeit‹ ist am Ende ein solcher Zweck, weil sie dem Leben des Einzelnen einen Spiegel vorhält. Seltsame Regung! Ein ›Menschheitsversagen‹ denken zu wollen wäre ebenso lächerlich wie der Drang, der Menschheit Vorhaltungen zu machen. Das Menschheitsversagen findet im Einzelnen statt. Es ist seine Weise, die Dinge so zu stellen, dass er sich dabei salviert. Man muss das wohl (oder übel) wörtlich nehmen: Wo die Menschheit versagt, bleibt für den Einzelnen nichts zu gewinnen. Das gilt für die eigene Geschichte so gut wie für die Geschichte aller. Die ewige Sinngeberei, zu der die Psychologen raten, stößt hier an ihre Grenze. Wer nicht durchschaut, was man ihm da zumutet, ist kein Mensch – vielleicht der Übermensch, vielleicht ein menschenähnliches Wesen, dem die Zukunft gehört, vielleicht ein Mutant auf dem Weg in den Abgrund. Aber: er ist kein Mensch. Mensch sein heißt die Täuschungen zu durchschauen gerade dort, wo sie sich drängen, sie zu durchschauen, während sie sich drängen, sie durchschauend von ihnen überwältigt werden und sie dennoch auf die eine oder andere Weise zu ahnden.
© Acta litterarum 2009