Gesellschaftsdämmerung | Rede
vom Weltuntergang (III,24)
Aber vielleicht ist das Verbot nur vorläufig. Nicht als käme die Revolution still triumphal durch die Tür zurück, durch die sie sich entfernt hat – diese Zuversicht kann man getrost denen überlassen, die nie begreifen, was eine enttäuschte Erwartung bedeutet. Näher liegt die Aussicht, dass die unsichtbar in die ›Verhältnisse‹ eingetragene Chiffre sich – unabsehbar – transformiert. Wohin die Reise wohl geht? Der Weltprozess selbst könnte einmal vergessen werden: das wäre eine Revolution, wie es noch keine gab. Sie wäre auch paradox, wenn man annimmt, dass der Weltprozess in seiner gegenwärtigen Gestalt eine Replik auf das Revolutionsmodell darstellt. Was heute ›Modernisierung‹ heißt, ein Spiel sich ständig erneuernder Ungleichzeitigkeiten und effektvoll inszenierter Aufholjagden, ist vermutlich strikter an das Ende der Blöcke und ihre Erbschaft gebunden, als manche Siegerpose der neunziger Jahre erwarten ließ. Nicht ohne Hintersinn findet sich in ihrer Begleitung der Alarmismus, das reißerische Hantieren mit der Gattungszukunft. Hier herrscht das Prinzip Schreckensmaximierung. Ausgesuchte Parameter werden liebevoll zum globalen Exitus hochgerechnet, beiläufig erblüht das zarte Pflänzchen Hoffnung, gewässert mit Sprüchen über das Erreichte und noch zu Erreichende, die so liturgisch klingen wie das mea culpa in der lateinischen Messe – ein probates Mittel der Massenbeeinflussung, das auf Seiten der Massen eine fatal an das ›Wegsehen‹ unter autoritären Regimen erinnernde wissende Indifferenz erzeugt. Unübersehbar die Diskrepanz zwischen internationalen Verträgen und ›nationalen Anstrengungen‹ auf der einen und dem, was not täte, falls die Prognosen stimmen, auf der anderen Seite. Es ist die Menschheit, die sehend wegsieht – aber wer ist das? Der ›Partner‹ des Weltprozesses? Der Träger des Weltgewissens? Oder der wimmelnde, vielgliedrige Prozess selbst? Was als Rollenspiel der Einzelnen kaum analytische Rätsel aufgibt, stellt die Theorie der Geschichte vor eine Reihe eigenartiger und kaum lösbar erscheinender Probleme.
© Acta litterarum 2009