Gesellschaftsdämmerung | Rede
vom Weltuntergang (III,21)
Wer ›Spielräume‹ sucht, der findet sie. Das war die Situation eines Gramsci, eines Solschenyzin, eines Sinowjew, es ist die Situation von Revolutionären ohne Revolution, von Menschen ohne historische Hoffnung, aber mit einem Blick auf statt für das Gegebene. Es ist auch die Situation von Menschen, die sich unvermittelt ihrer ›Sendung‹ beraubt sehen, jener Sendung ohne Wenn und Aber, die irgendwann in sie eingepflanzt wurde. Wie konnte das geschehen? Ein Block wurde zwischen sie und ihre Ziele gerollt, der ihnen nicht nur den Weg verstellt, sondern den Ausblick. Das Ziel müsste also neu bedacht werden, es müsste überdacht werden, was nicht so einfach ist. Wer sein Ziel überdenkt, ist im Grunde seines Herzens – und Nachdenkens – darüber hinaus. Er ist aber gebunden, weil es aufgeben hieße, weil es hieße, sich den Gegebenheiten zu beugen und hässlich zu werden in den Augen, die ihn schon länger beobachten. So einer kann im Jahr 2005 schreiben: »Seriös ist fuer mich die Geheimrede von Chrustschow 1956, wo er mit Stalin abrechnet. Nicht der Hetzer Solschenyzin .« Nicht der Hetzer... Dass jemand bereits Konsequenzen aus einer Weltlage gezogen haben kann, bevor man selbst sich von ihrem Illusionspotential bestimmen ließ, darin liegt die größte Kränkung, die man einem Gläubigen zufügen kann. Die Spielräume, die sich die Gläubigen der zwischen Ost und West geteilten Welt schufen, stellen gewissermaßen Verbeugungen des gebundenen Denkens dar, Ausweichmanöver unter dem Eindruck einer Konfrontation, in deren Zentrum die mit einem Zeitindex (›vorher – nachher‹) versehene Dichotomie von Vernunft und Unvernunft steht. Was man seit der Französischen Revolution ›Gesellschaft‹ nennt, beruht mehr oder weniger unauffällig auf dieser Dichotomie und der historischen Matrix, die sie regiert. Diese Matrix ist nicht aus den Köpfen verschwunden, nur weil die Weltkarten neu geordnet wurden. Sie überdauert in einer bizarren Symbolik, deren Entschlüsselung nicht recht vorankommen will.
© Acta litterarum 2009