Gesellschaftsdämmerung | Rede
vom Weltuntergang (III,20)
So wurde das Modell der vernünftigen Unvernunft unter dem Diktat einer bestimmten, dem Ost-West-Gegensatz geschuldeten Diagnose ersonnen. Diese Diagnose lautete: Revolution ist unmöglich. Mehr als das: sie zu wollen wäre unverantwortlich. Ihr Gelingen wäre ihr Ende. Ein Ende mit zwei Ausgängen, die sich folgerichtig zu einem vereinigen – der eine führt früher oder später in den Sumpf realsozialistischer Existenz, einschließlich Terror, Pressionen, leerer Prätentionen und leerer Regale, der andere unmittelbar in das zähe Ringen der Flügelmächte um Einfluss und Dominanz. Kurz, Revolution bedeutet Stellvertreterkrieg oder, Bedrohung ohnegleichen, direkte Konfrontation. Diese unmögliche, durch die ›bipolare‹ Weltlage abgetriebene Revolution geistert durch die Köpfe einer enterbten Linken, aus ihr entsteht unter der Hand eine Wirklichkeitsauffassung, in der es als das Gegebene gilt, sich auf die Durchsetzungskräfte der Unvernunft zu verlassen und darauf, dass es zur gegebenen Zeit möglich sein wird, ihren ›Gestaltungswillen‹ auf die Mühlen einer partiellen Vernunft zu lenken. Diese ›partielle Vernunft‹... ein klingendes Wort, eine klingende Münze, immer und überall von zwei Seiten zu betrachten – von der Seite ›ehrlicher Reformen‹ und von der Seite einer partiell ›aufblitzenden Vision‹, die sich irgendwann nur noch als Gruppenressentiment artikuliert. Die ›partielle Vernunft‹ wurde zum Schneewittchensarg der mumifizierten Revolution, in ihn konnte sie sich ohne weiteres flüchten, als der Rote Platz geräumt wurde.
© Acta litterarum 2009