Gesellschaftsdämmerung | Rede
vom Weltuntergang (III,19)
Natürlich handelt jeder, der sein Tun als ›Handeln‹ begreift, ›vernünftig‹: wer das feststellen will, braucht ihn nur anzuhören. Selbst die Verteidiger der Unvernunft führen vernünftige Gründe an, was denn sonst? Natürlich bezichtigt jeder, der anderer Auffassung ist, die Gegenseite der Unvernunft, wie partiell oder komplett auch immer – man muss ihm nur lang genug folgen und sich nicht am Vokabular stören. Die vollendete Unvernunft, das ist die vollendete Fremdbeschreibung. In ihr kommt das Beschriebene nicht mehr zu Wort, in ihr besitzt es keine Stimme, jedenfalls keine menschliche. Im Natürlichkeitszoo der Vernunft schmähen die Guten die Bösen, das ist ganz normal, es gehört zur Ausstattung des beweglichen Denkens, das seiner Resultate nicht sicher sein kann und darf, will es nicht an sich selbst zu Grunde gehen. Vernunft = Unvernunft: an dieser Gleichung arbeiten alle, an ihr arbeiten sie sich ab, unter anderem auch, um sie auf den jeweils neuesten Stand zu bringen. Das macht den Zweifel am Vernunftparadigma so unergiebig – er dient dazu, den Kampf zu verschleiern. Das ›andere Wissen‹ ist eine Marotte der Vernunft wie andere auch, eine Figur der Hilflosigkeit oder des Draufgängertums. Sie überlässt der gegnerischen Partei das Wissen als Besitz und reist mit leichtem Gepäck. Wer kein Gehör findet oder zu finden hofft, der hegt das andere Wissen: er stellt, was er hört und nicht abweisen kann, unter Vorbehalt. Das heißt, er nimmt sich von Fall zu Fall anders heraus: es geht um nichts oder alles, so wie es um dies oder das geht, je nachdem, wo der Schuh drückt oder sich unverhofft eine Gelegenheit auftut.
© Acta litterarum 2009