Gesellschaftsdämmerung | Rede
vom Weltuntergang (III,17)
Für einen Revolutionär ist die Dichotomie Vernunft/Unvernunft entweder sinnlos oder in einer Weise umfassend, dass vor ihrem Hintergrund die Revolution, recht verstanden als Perpetuum mobile der Vernunft, zwangsläufig als das nächste Beste erscheint. Wem hingegen das nächste Beste als das Ausgeschlossene gilt, weil sich Erfahrungen damit verbinden, die kein vernünftiger Mensch wiederholen möchte, dem verwandelt sich das Muster der herrschenden Unvernunft. Und zwar in beide Richtungen: es gibt darin eine vernünftige und eine unvernünftige Unvernunft des Bestehenden. Die vernünftige Unvernunft ist leicht zu entziffern. Ihr liegt der Gedanke voraus, dass alle zivilen Verhältnisse besser sind als das große Morden und die sinnlose Unterdrückung im Namen einer Herrschaftsrede, deren bloße Erwähnung nur noch Gähnen hervorruft. Schwerer lässt sich erkunden, wo die unvernünftige Unvernunft beginnt. Und beginnen muss sie – irgendwo, irgendwann, hier und heute und immer wieder. Sonst wäre es aus. Die Kämpfernaturen, die sich im Namen des Guten sammeln, die Ideengeber, die etwas Neues anstoßen wollen, die Empörten, die auf die Opfer des gegenwärtigen Weltzustandes blicken und nicht vergessen können, sie alle müssten sich sonst zerstreuen und einzeln nach Hause gehen, nachdenklich vielleicht, doch in der Hauptsache betäubt und unbeseelt. Nur: diesen Beginn umhüllt ein Geheimnis. So sind sie schon immer mittendrin im Gedankengetümmel – kraftlos und überzeugt, Wachhabende einer abwesenden Vernunft, die aufstehen, sich für den Tag präparieren und wieder ins Bett gehen, jahraus, jahrein.
© Acta litterarum 2009