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Gesellschaftsdämmerung | Rede vom Weltuntergang (III,15)
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Nein, es muss nicht Gott sein. Aber etwas Großes, etwas, das sich verwirklichen lassen muss, weil ›wir‹ sonst die einzige Chance verspielen, die wir haben, sollte es schon sein. Das liegt daran, dass die Menschheit mitsamt ihren Problemen eine Sache von Wissenden ist, die an jeder Stelle ihres Wissens auflaufen. Wen weder das künftige Heil noch das gegenwärtige Elend drückt, den drückt die Wissenschaft, diese ohnehin drückende Instanz, die für jedes Problem, das sie löst, ein Dutzend andere in den Raum stellt, die zeitlich zwingend gelöst werden müssen. Die Frage ist also, wer so ein Ziel in die Hand nimmt und mit ihm davonläuft – und, wie weit er damit kommt, ehe die Erschöpfung und die Konkurrenz ihn zur Strecke bringen. Aber die Neugier bleibt marginal. Irgendjemand findet sich immer: Wer kann, der kann. Spannender wäre zu wissen, welcher Aufwand diesmal getrieben und wer damit an die Wand gespielt wird. Noch spannender allerdings, welche neuen Realitäten sich aus dem zu erwartenden Scherbenhaufen erheben und ihr Lebensrecht fordern – selbstverständlich sub specie der Zeit, die uns davonläuft und der Zeit, die uns bleibt. Als Illusionist gilt dagegen, wer sich für seine Ziele, die vielleicht nicht so sehr von denen der anderen differieren, ›alle Zeit der Welt‹ nimmt: das Weltvertrauen, das sich in einer solchen Vorstellung zu äußern scheint, ist bestenfalls als privates Therapieziel gestattet, sofern einer aus dem Ruder gelaufen ist oder der Lebensabend zur Gestaltung ansteht. Ob man der sich bietenden ›Chance‹ zwingend vertrauen muss, steht auf einem anderen Blatt. So gebieterisch, wie sie auftritt, fragt sie nach nichts. Sie bietet ja auch, streng genommen, nur sich – die Aussicht auf eine befriedigende Interpretation der kommenden Dinge. Doch diese Interpretation ist bereits konsumiert.
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