Gesellschaftsdämmerung | Moderne zum Abwinken (II,19)
Die klassisch gewordene, das heißt in respektvolle Distanz
geschobene und dort auf geheimnisvolle Weise gültig gebliebene moderne
Kunst lebt vom Motiv der Sinnkonstitution. Ihr Rezept ist die
Sparsamkeit der Mittel. Von Rodin bis Henry Moore, von den
Präraffaeliten bis Pollock wurden das Heraustreten der Figur aus dem
Block, die sukzessive Formierung von Linie und Farbe zur bildnerischen
Syntax als Quellen der Inspiration und des Verstehens gehandelt. Als
›gegeben‹ traten nicht etwa die Gegenstände ins Bild, sondern die
Darstellungsmittel. Diese Konzentration auf die mittleren und
vermittelnden Instanzen der Kunst erscheint den Späteren als eine wahre
Besessenheit – man kann den Wahn, der sich darin ausdrückt, als
ein Sich-Aufbäumen betrachten, der wenigstens in den Mitteln die
Autonomie der Kunst sichern möchte, die in der Weltdeutung so
bereitwillig abgegeben wurde, dass man sich im Nachhinein nur wundern
mag. Die Folgen der ungeheuren Aggressivität der alles erklärenden
›großen Erzählungen‹, wie Lyotard sie nannte, kann man am Grad der
Zerstörung ablesen, die sie in die Kunst hineintragen. Auch die
Künstler, verfolgte und nicht verfolgte, waren Affizierte - gerade sie
–: wie denn sonst? Sie waren an allem beteiligt, was jenes schreckliche
Jahrhundert zu bieten hatte, euphorisch und entsetzt – gerade sie –:
wie denn sonst?
© Acta litterarum 2008