Gesellschaftsdämmerung | Moderne zum Abwinken (II,16)
So wenig es Moderne ›gibt‹, so selbstverständlich gibt es eine
Geschichte der Moderne. Sie ist immer eine Geschichte unter anderen -
was manche Theoretiker dazu verführt hat, eine Vielzahl
unterschiedlicher ›Genesen‹ für die Moderne zu proklamieren. Es mag
sein, dass jede Geschichte auch ein wenig Ursprungsgeschichte ist, aber
in diesem Fall lässt sich die fundamentalistische Pointe nicht
übersehen. Die - konkurrenzlose - Geschichte der Moderne ist der Gang
der industriellen Gesellschaft - ihr Gang wohlgemerkt, nicht ihre
›Ausbildung‹. ›Als solcher‹ ist der Kapitalismus ebenso wenig modern
wie der Sozialismus oder irgendeine andere Denkschule. Erst der
empfundene, behauptete, beschriebene Gegensatz gegen die Alten (›les
ancients‹) ›macht‹ die Moderne, er macht sie immer aufs Neue und immer
neu, so wie die ›Alten‹ des siebzehnten Jahrhunderts nicht lange
gemeint bleiben, sondern durch andere ersetzt werden. Die Geschichte
hinter der Moderne ist also die Geschichte der Verschiebungen in der
Art, wie die Alten, die Vormodernen, die Welt vor dem Schnitt
ausgezeichnet werden: eine diffizile Angelegenheit, da jeder, der hier
forscht, mit störenden Interventionen seiner Lebenswelt rechnen muss.
An nichts lassen sich vormoderne Zustände zuverlässiger identifizieren
als an ihrer ›veralteten‹ Technik. Je schneller oder intensiver der vom
Betrachter erfahrene technologische Wandel, desto leichter verschwimmen
die Grenzen zwischen den verschiedenen Zonen des als nicht mehr
zugehörig empfundenen Alten, desto punktueller zeigt sich Moderne. Auch
die andersartige Stabilität ›geistiger‹ Einstellungen und Werke wirkt
irgendwann befremdlich und muss erklärt werden. Gleichgültig, wie diese
Erklärungen ausfallen, sie nehmen dem ›Phänomen‹ eine Spitze, sie
machen es weniger selbstverständlich, sie nehmen ein Stück ›Geltung‹
heraus und deponieren es im Erklärungsmuster, am Ende in der
Notwendigkeit der Erklärung. Die zu wendende Not ist gerade immer die,
auf die das Geistige antwortet - was bedeutet, dass es mehr oder
weniger rasch zum Akzidenz dieser Not selbst wird, die wir nicht nur
erklären, sondern wenden, soll heißen, in einer nahen oder fernen
Zukunft beseitigen können.
© Acta litterarum 2008