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Gesellschaftsdämmerung | Moderne zum Abwinken (II,15)
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Der Gedanke der Distanz hat eine lange Geschichte hinter sich, ehe er als eine Art Grundmotiv der Moderne auftritt. Auch hier behält er die Schein-Eindeutigkeit, mit der er sich Leuten andient, die sich eher ›geistig‹ verstehen: Intellektuelle, Gläubige, Ideologen, Weltflüchtige, Invaliden des Apoll und der Infinitesimalrechnung. Nichts geht leichter auf dem Papier (oder an der Tafel) vonstatten als das Einklammern. Was zwischen die Klemmbacken der Abstraktion gerät, ist nicht verschwunden, aber relativiert, es wird zur handlichen Größe auf einem Operationsfeld, in dem es um andere, wichtigere Dinge geht – den Wurf etwa, der den Distanzierten in eine neue, nicht notwendig homogene Zeit- oder Wertordnung schleudert. Zur Distanz gehört das Aperçu, die in einem Punkt zusammenfließende oder -schießende Weltsicht, mit der sich der Einzelne aus einer festgefügten Konstellation heraussprengt. Zu ihr gehört das ›Verhältnis‹, das kalkulierte Sich-Verhalten und Mit-etwas-Umgehen, auf das für viele sich der gesuchte und gefürchtete ›Kontakt‹ mit der Außenwelt beschränkt. Zu ihr gehört auch die Urteilsabstinenz, das stornierte Bekenntnis, das sich prachtvoll mit einem funktionierenden Weltgewissen vereinbaren lässt. Das ist nicht verwunderlich, da letzteres auf Ritualen beruht, die den Kernbestand eigener Überzeugungen freilassen. So bildet sich bei allen, die verantwortlich denken, ganz natürlich heraus, was Orwell einst ›double speech‹ nannte, die gespaltene Zunge. Der unterdrückte Einwand ist immer mitgedacht, er stellt eine Art strukturierender Folie dar, auf der sich die Rede bewegt, die sich einer erlaubt. Schließlich gehört zur Distanz, dass einer ausweicht: das kann höflich sein oder feige, rücksichtslos oder klug, jedenfalls zählt es zu den Kulturtechniken, die jede Kultur überleben, weil ohne sie keiner überlebt. Die Kulturen selbst, diese großen Kommunikatoren, weichen sich in ihrem Kernbestand aus und das scheint gut so. Sie verkehren miteinander und sie halten Abstand. Wer das nicht nüchtern sieht und seine mitgebrachte Kultur der anderen zu opfern gedenkt, kommt nicht an, sondern gerät ins Abseits. Er ist kein Partner im Gespräch der Kulturen, sondern ein Zwischenträger, dem man manches abnimmt, aber beileibe nicht alles. In einem gewissen Sinn kommt er nie in Betracht. Das Gespräch führen andere, die keine Sekunde zögern, das Gewicht der eigenen Rede durch heimische Praktiken zu steigern und dort Distanz zu erzeugen, wo sie sie für angebracht halten. Der ›Kampf der Kulturen‹ ist identisch mit dem Schrecken schlechthin, ein Freibrief für grenzenlose Gemetzel, wie man nicht erst seit den Schützengräben des Ersten Weltkriegs weiß.
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