Gesellschaftsdämmerung | Moderne zum Abwinken (II,11)
Es klingt immer kurios, zu erfahren, ›wir‹ hätten die Moderne
hinter uns, ebenso kurios, als wollte man uns verkaufen, wir hätten sie
vor uns. Vor allem deshalb, weil immer dabei anklingt, man habe sie
überwunden, so, als sei sie plötzlich als Jugendtorheit entlarvt oder
als Anfangsschwierigkeit eines größeren Unternehmens gelöst oder
beiseitegeschafft worden oder als habe man einen Feind besiegt und eine
gefährliche Okkupation gerade noch rechtzeitig beendet. Die
professionellen Überwinder der Schwierigkeiten halten es wie die
Ministerin, die ihren Beamten verbietet, in ihren Vorlagen das Wort
›Problem‹ zu benützen. Sie schaffen Probleme. Die Moderne, und nicht
erst sie, hat eine Problembürokratie geschaffen, die mit jedem
öffentlichen Problemschnitt anwächst. Kein Problem, das dort nicht
verwaltet würde, sorgfältig registriert, beobachtet und verwahrt, mit
philosophischen, juristischen, ökonomischen, hermeneutischen
Behandlungsvermerken versehen, in Erwartung der Stunde, in der es
erneut zur Begutachtung ansteht, man wird sehen, wie danach weiter zu
verfahren ist. Die gezielte Reduktion der Probleme im Dienste des
Lebens, der Politik, der Karriereplanung oder auch nur von Projekten,
für die man eine Zeitlang bezahlt wird, gelingt erst vor dem
Hintergrund dieser geschmeidigen und effizienten Verwaltung, man kann
auch sagen: dank der Gesichtslosigkeit des überwiegenden Teils der
Tätigkeiten, die im Bereich des Denkens täglich anfallen. Den Beamten
gefällt ihre Ministerin und sie möchten ihr keine Schwierigkeiten
bereiten, lieber nehmen sie weitere auf sich und protestieren nur
hinter der vorgehaltenen Hand.
© Acta litterarum 2008