Gesellschaftsdämmerung | Moderne zum Abwinken (II,9)
Der Widerspruch zur Moderne entstammt keinem Gestern oder Morgen,
keinem Jenseits der Epoche. Sie selbst bringt ihn hervor. Sie nimmt
jeden mit. Konservative und Progressive, Realisten und Utopisten — sie
spielen ihren Part. Scheinbar zeitversetzt, doch stets in tempore.
Jedenfalls dann, wenn der Begriff der Moderne das leistet, was seine
anspruchsvolleren Apologeten von ihm erwarten. Nur als Epochenspender
lässt sich Moderne begreifen. Wer in ihr eine Bewegung sieht, der man
sich anschließen oder gegen die man opponieren kann, versteht nicht,
dass modern sein im Ernst nichts weiter heißt, als an der Zeit sein.
Die Besorgnis, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein, nicht mitzuhalten -
mit was auch immer -, lässt jede Bewegung, auch Modernebewegung,
veralten. Wenn es modern ist, der Parole von der überwundenen Moderne
zu folgen, dann gibt es kein Halten. Deshalb fällt jede ausgerufene
Nachmoderne zwanghaft und zwangsweise wieder in den Fluß der Moderne
zurück. Moderne beginnt, aber sie endet nicht. Wer ihr Ende ausruft,
steht als ebenso seltsamer Prophet in der Wüste wie ein Vertreter der
These vom Ende des Staates oder der Kunst oder der Religion. Moderne
ist nicht angewiesen darauf, dass jemand den Ausdruck mag. Wie die
Avantgarde versteckt sie sich mühelos unter tausend Begriffen. Im
Alltag genügen Betonungen oder Einfärbungen der Aussprache, die
bestimmte Vokabeln eine Zeitlang wie geheimnisvolle Markierungen
tragen, um ihre Botschaft zu übermitteln. Was geht und was nicht mehr
geht - das Ausmitteln dieser Grenze realisiert den Gehalt von Moderne,
wann immer es geschieht, mit welchen Mitteln auch immer. Deshalb sind
Modernetheorien so öde, die über den realen Gehalt der Moderne Auskunft
geben sollen.
© Acta litterarum 2008