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Gesellschaftsdämmerung | Moderne zum Abwinken (II,6)
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Die Öffentlichkeit ist ein gefräßiger Riese, dessen Verdauung – sozusagen – auf tönernen Füßen steht. Erkenntnisse, die man ihm einzuflößen versucht, erregen sein immer reges Misstrauen. Er sieht voraus, dass sie ihm nicht bekommen werden und weiß sich gut beraten, wenn er weiterhin auf die gewohnte Kost vertraut. Öffentlichkeit und Wissenschaft, sagt man, sind nicht ohne weiteres kompatibel. Dabei ist der gegenständliche Teil ihrer Thesen durchaus im Umlauf – die Öffentlichkeit ist ›in Teilen‹ stets ›erstaunlich‹ informiert, auch wenn sie sich nicht so zeigt. Sie ist sogar auf dem Laufenden, wenngleich dort die Schwierigkeiten beginnen. Da sie nun einmal von den wissenschaftlichen Argumentationstechniken nichts wissen kann, weil sie dazu die eigenen aufgeben müsste, und deshalb auch die Argumente nicht versteht, entgeht ihr in schöner oder unschöner Regelmäßigkeit der Clou der Geschichte und ihr Wissen zerfällt und sammelt sich in den bizarren Weltbildern unzähliger interessierter Zeitgenossen. Das Vorurteil besteht fort, es erhält sich rund und lebendig, solange man immer neues Wissen in die Kreisläufe einspeist. Darin liegt ein großes Geheimnis der Medien, der Zaubertrick, mit dem sie das kritische Publikum zwischen ihre Knie betten. Kein Vernetzungsprojekt zwischen den Institutionen der Wissenschaft und der öffentlichen Vermittlung kann daran etwas ändern – schließlich bestehen die realen Netze vor jedem Projekt und akkomodieren es sich mühelos im Entstehen. Und sie bestehen nicht ohne Grund. Diese selbstreproduzierenden Kamele auf dem langen Marsch durch die Wüste der informationsgestützten Intuition beherrschen den Zeittakt der Gesellschaft. Sie geben – und nehmen – die Zeit, die bleibt, um einen gegenwärtigen Messianisten zu zitieren. Sobald sie ›Druck machen‹, konzentriert sich die Zeit der Hoffnung auf die Dauer, für die sich die massenhafte Abstellung von Journalisten rechnet, davor wie danach herrscht die durée der Hoffnungslosigkeit: »Alles bestens!« Medien, die auftragsgemäß irgendeiner Mehr- oder Minderheitsidiotie huldigen, sind da naturgemäß im Vorteil. Die Unverfrorenheit prescht jeder Recherche voran und schließt die durch gereizte Nachdenklichkeit geöffnete Lücke mit dem Implantat des nächsten ›Wahnsinns‹. Kein Goldzahn, aber eine Goldgrube: die stets offen gehaltene Informationslücke erzeugt diese Leerstelle im Bewusstsein, die selbst hochgebildete und denkstarke Menschen zu beinahe willenlosen Anhängseln des öffentlichen Bewusstseins macht.
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