Gesellschaftsdämmerung | Vergangene Zukunft (I,14)
»Das Stereotype, diese ekelerregende Unmöglichkeit zu sterben.«
(Roland Barthes) Warum empfinden theoretische Menschen das Einerlei als
Verhängnis? Das Einerlei, jeder weiß es, trägt die Spuren des Glücks,
wer daran streift, bekommt soviel ab, wie ihm zuträglich ist. Im
Einerlei findet sich die Menschheit, die anthropologische Konstante,
das Menschsein, wie es sich ausdrückt: ob als Zahnpastatube oder als
Aknepustel, das zu bedenken bleibt jedem selbst überlassen. Das
Immergleiche stammt aus der seriellen Einbildungskraft, die sich am
Einerlei gesättigt hat. Es kommt nichts Neues dabei heraus. Wie sollte
es auch? Das Neue, in dessen Namen einer tätig wird, gibt es nicht,
wird es nie geben. Es ist im voraus entwertet. Erst der homo novus, der
›neue Mensch‹, jeder weiß es und schaudert davor zurück, ist der
serielle. Der Mensch hingegen ist, wie er ist. Die Prozedur des
allmorgendlichen Sich-Erhebens, Waschens, Ankleidens, Frühstückens, die
tägliche Komödie der Auferstehung, wie Cioran sie nennt, verwandelt
sich in tödliche – soll heißen: gerade nicht tödliche – Langeweile
durch das Bewusstsein, mit dem, was kommt, durch zu sein. Wer so weit
ist, alles, was kommt, im voraus ›in Klammern‹ zu setzen, lebt in der
Vorstellung von einer anderen Zukunft. Diese Vorstellung kann leer
sein, sie kann aus revolutionärem Unsinn bestehen, sie kann sich
unverblümt aufs Jenseits richten, das alles macht keinen Unterschied.
Wichtig ist nur: Gerade was mit Sicherheit als Nächstes kommt,
zählt nicht. Manche gehen so weit, es die Hölle zu nennen –
pikantermaßen, denn eine Hölle ohne den Wunsch, in den Himmel entrückt
zu werden, ist keine. Auf dem Grund des revolutionären Begehrens, das
in der Wirklichkeit keine Angriffsfläche findet, liegt der Wunsch nach
Entrückung. Im Eingehenwollen ins Bild, dessen Leben dem Tod nahe
steht, liegt die Rache der verschmähten Kunst. Ungerührt bannt sie das
Einerlei.
© Acta litterarum 2008