Gesellschaftsdämmerung | Vergangene Zukunft (I,11)
Verzicht auf Stolz ist eine Formel für ein Leben im Vortod. Eine
Formel, die selten gebraucht wird, weil sie thematisiert, was nicht zur
Disposition steht, es sei denn im Gebrüll der Fußballarenen oder auf
fahnenseligen Kirchentagen. Auch der Vortod als Lebensverfassung wird selten
thematisiert. So etwas gibt es, die Literatur befasst sich damit, die
Kunst erfindet Symbole dafür, das kommt vor. Damit ist schon alles
gesagt. Der unsichtbare Vortod – ein Leben in Erwartung des Endes,
irgendeines Endes, des Endes von nichts Besonderem, dieses Planeten zum
Beispiel, oder, kleiner, privater, dieser Beziehung, dieser Alten,
dieser Regierung, dieser Gesellschaft, dieser ganzen zur Gegenwart
zählenden Komplexion aus Personen, Autos, Ferienreisen und Sex. »In
fünfzig Jahren ist das alles vorbei«: eine Sentenz aus dem Mund von
Leuten, die, wissend oder nicht, den Stechlin geben. So einer hat es
nicht eilig, das pauschal avisierte Ende wird gern auf einen Zeitpunkt
verlegt, den einer, statistisch gesehen, nicht mehr erlebt. Warum auch?
»Darauf kann ich verzichten.« Und er hat recht. Wer vieles miterlebt
hat, der redet so. Anderen reicht das mediale Dabeigewesensein. Nur der
verbale Ausdruck verschiebt sich um Nuancen, denn die Verzichtrede wird
durch die Medien nicht trainiert, sondern ebenfalls der Geringschätzung
überantwortet. Was immer enden wird, man ist entschlossen, keinerlei
Aufhebens davon zu machen. Man ist entschlossen.
© Acta litterarum 2009