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Gesellschaftsdämmerung | Vergangene Zukunft (I,10)
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Glaubt man ethnologischen Untersuchungen, so öffnet sich die unsichtbare Wunde der Scham in jedem Wesen, das, aus welchen Gründen auch immer, ›Mensch‹ genannt wird. Sie lenkt die Blicke des Anderen wie ein Schild die Pfeile des Gegners in alle möglichen Richtungen. Scham ist reine Korrespondenz. Wer sich schämt, kalkuliert nicht, aber er folgt einem Kalkül, das ihn beseelt. In diesem Kalkül fällt dem Gegenüber die Schlüsselrolle zu. Sich schutzlos machen, ohne sich zu unterwerfen, nicht aus Torheit, sondern aus innerem Zwang, nicht in den Mitteln, sondern in den Motiven, traut dem Mitmenschen einiges zu: nicht mancherlei, aber dieses eine, das viel ist. Zwischen Scham und Stolz besteht eine enge Verbindung. Der Stolz, so könnte man raten, drückt das Vertrauen in die Wirksamkeit der Korrespondenz aus. Er drückt aus: nicht mehr, nicht weniger. Was bedeutet das Wort ›ausdrücken‹ an dieser Stelle? Und welche Art Vertrauen ist dabei gemeint? Das sich ausdrückende, das Zeichen setzende Wesen, das Symboltier Mensch ist, wie alle zu wissen glauben, das soziale. Auch der Ausdruck von Stolz gilt innerhalb dieses Wissens als Zeichen der Sozialität oder Soziabilität – einer sehr weit gefassten, auf die leere Beziehung, die beziehungslose Beziehung zwischen Menschen reduzierten ›Gesellschaftsfähigkeit‹. Was leistet dann, rein gesellschaftlich, der Verzicht auf Stolz?
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