Ulrich
Schödlbauer: Gesellschaftsdämmerung | Vergangene Zukunft (I,9)
Der lange Gang der Sprache ist ein Entwerter. Wörter, die Ansehen
und Bedeutsamkeit signalisieren, steigen ab, trivialisieren sich,
nehmen ärgerliche, lustige oder obszöne Bedeutungen an. Andere Wörter
treten an ihre Stelle, ohne sie exakt zu ersetzen, und geraten früher
oder später in eine analoge Spirale. Wörter, sagt man, sind Indikatoren
sozialer Prozesse. Wenn ganze Wortgruppen absinken, vor allem solche,
die eng mit den sozialen Fakten, mit habitualisierten Schätzungen und
geltenden Werten verbunden sind, dann deshalb, weil Schichten oder
Gruppen absteigen, bedeutungslos werden, in neue Funktionszusammenhänge
einrücken oder sich auflösen, über deren Lebensweise und
Selbstwertgefühl sie Auskunft geben. Aber es gibt auch andere Fälle.
Beispiel: Stolz. Ausdrücke, die Stolz signalisieren, stehen nicht hoch
im Kurs. Ironie und Geringschätzung stigmatisieren ihren Gebrauch. Der
unverhüllte Ausdruck von Stolz gilt als roh, als ›unzivilisiert‹, als
›Natur‹, weshalb er sich vermutlich auch im sexuellen Bereich so
hartnäckig hält, wo dieses Produkt gefragt ist. Das
Geschlechterverhältnis, so könnte man schließen, bringt ihn in jeder
Generation neu hervor. Die Demütigungen, die es bereithält, treiben ihn
in verwandte Regionen wie die der Nation, der Religion, des Profits.
Doch darin steckt, wie in manchem anderen, ein Geheimnis. Der verdeckte
Stolz ist der wirksamste, aber er selbst verdeckt etwas anderes. Er
deckt eine Stelle, die man gelegentlich als ›Wunde‹ tituliert findet
oder als ›verletzlich‹. Das mag zutreffen, erklärt jedoch wenig, vor
allem dann, wenn das Schreckenswort ›Selbstwertgefühl‹ jede weitere
Überlegung abschneidet.
© Acta litterarum 2009