Gesellschaftsdämmerung | Moderne zum Abwinken (II, 22)
Die Gegenstände bedürfen der Kunst. Ein solcher Satz ist schnell
hingeschrieben, eine lange Tradition versorgt ihn mit Bedeutungen ohne
Ende. Was also bedeutet es, ihn hinzuschreiben? Bedeutet es, sich in
eine Tradition zu stellen? Die Frage ist nicht so leicht zu
beantworten, weil die Gedanken nicht so abrufbar sind, wie es manche
gern hätten. Es steckt eine Abweichung darin, die Weigerung, sich dem
Bauherrencredo anzuschließen, das da lautet: Kunst muss sein. Nein,
Kunst muss keineswegs sein, auch wäre vielleicht die Frage, ob sie
überhaupt in irgendeinem vertretbaren Sinn ›ist‹. Auf der anderen Seite
setzt der Begriff des Gegenstandes dem Verständnis des Satzes Grenzen.
Bedeutet er, Kunst habe ›gegenständlich‹ zu sein, gegenstandsbezogen,
auf Gegenstände verweisend, sie ins Bild holend? Ist das gemeint?
›Gibt‹ es den berühmten Bildraum, in den man Mützen, Regenschirme oder
Bäume ›holen‹ könnte? Gibt ihn die Kunst? Der Künstler? Gibt es ihn so,
dass auch er nur bedient oder gestaltet werden muss? Sind Gegenstände
›Objekte‹, ist Kunst – in den Grenzen des Subjekts – ›objektiv‹? Über
jede dieser Fragen werden Bücher geschrieben, die von Leuten gelesen
werden, die solche Bücher verfassen. Nein, sagt Oleg, die Menschen
bedürfen der Kunst, die Schwierigkeit besteht darin, sie ihnen zu
bringen. Das mag sein, aber es beantwortet nicht die Frage, womit es
die Kunst zu tun hat. Wenn jener einfache Satz bedeutet, ›die Kunst hat
es mit den Gegenständen zu tun‹, dann wären – im Raum dieser Rede – die
Gegenstände vielleicht das, was ihr ›entgegensteht‹, woran ein
Bedürfnis sie bindet oder knüpft oder fesselt, das nicht das ihre ist,
aber ihr eine Bedeutung im Sinn einer Wichtigkeit, einer Aufgabe,
vielleicht sogar einer Würde verleiht. ›Kunst‹ könnte es dann ohne Ende
geben, gleich, ob sie sich selbst diese Wichtigkeit, diese Aufgabe,
diese Würde gibt. Aus einer Welt, in der Gegenstände keine Bedürfnisse
haben, fällt die Kunst heraus, sie fällt selbst unter die Gegenstände
und sie zeigt das Bedürfnis, gesehen zu werden, wahrgenommen zu werden,
für wahr genommen zu werden, als Stellvertreter der Wahrheit genommen
zu werden, einer Wahrheit, irgendeiner Wahrheit, einer Wahrheit, die
sich entzieht – sie zeigt es ganz offen, offener als ein Tier sein
Begehren zeigt, sie zeigt es unmittelbar, was bedeutet, dass sie, auf
irgendeine vertrackte, gestaltete Weise, dieses Bedürfnis ist. Die
Kunst – oder, um genauer zu sein, das Kunstwerk – ist das Gegenstand
oder ›gegenständlich‹ gewordene Bedürfnis, das durch kein ›Leben‹
eingelöst wird, eingelöst werden kann – andernfalls wäre es ein Fetisch
–, es ist das Bedürfnis, das bleibt.
Vielleicht gilt es deshalb als Frevel, ein Kunstwerk zu zerstören:
nicht, weil dann nichts bliebe und eine banale Aufklärung triumphierte,
sondern weil man dem Bleibenden eine Stätte nimmt.
© Acta litterarum 2008