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Gesellschaftsdämmerung | Vergangene Zukunft (I,2)
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Die überzeugendste Sicht auf die Geschichte besitzt der gewöhnliche Mitteleuropäer zwischen seinem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr. Was war, ist Vorgeschichte, was sein wird, Zukunft, seine künftige Gegenwart, also: der Stand der Dinge. So einfach ist das Leben. Oder auch nicht. Kinder wachsen nach, das begrenzt den Ermessensspielraum. Jede Generation wird von der folgenden um die Früchte des Fortschritts betrogen – auch sie verzehrt, ohne hinzusehen. Wie gewöhnlich gelten die Früchte als faul und der Verzehr als schmerzhaft. Nur Schmerzempfindlichkeit und Schmerzrichtung wechseln – manchmal unmerklich, manchmal abrupt. Da fügt es sich, dass beide Seiten in Mißachtung oder Protest erstarren und es vieler Gespräche an imaginären oder realen Kaminen bedarf, um das wechselseitige Verhältnis ›im Fluss‹ zu halten, soll heißen: das hart und gebieterisch nach vorn drängende Urteil über die jeweils andere Seite vorerst in der Schwebe zu lassen. Eine schöne Schwebe ist das. In ihr paaren sich das Noch-nicht und das Nicht-mehr zu einem Nicht-wirklich, vor dem einem grausen könnte, wäre man nicht durch lebenslange Übung dazu erzogen, es für normal zu halten. Normalität: Make-up aller Schrecken. Was in ihr geschieht, ist kaum mehr als ein Firnis über den Unwirklichkeiten, an die man sich später lebhaft erinnert. Sie sind die Lebensbegleiter, was immer man davon halten mag. Ein Lächeln, eine ungute Bemerkung, ein Ausrutscher ihrerseits zählt mehr als jedes Arrangement, das einen in der Gegenwart hält. Und dennoch ist es dieser wandernde Jetztpunkt, der Leben von Nichtleben scheidet. Niemand fällt, gewollt oder ungewollt, aus der Zeit; wer darin alt aussieht, ist vielleicht nur beschäftigt. Das zu begreifen fällt den Beschäftigten schwer.
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